In Zeiten der Corona-Krise treten bekannte Effekte bei Lieferketten deutlich zu Tage – sichtbar für jeden von uns
Ich hätte mir das vor ein paar Tagen noch nicht vorstellen können. Heute früh meldete ich per Kurznachricht nach Hause: „Klopapier ist im Freiburger Osten aus“. Ich muss gestehen, dass ich mir keinen vollständigen Marktüberblick verschafft habe, bevor ich zum Smartphone griff. Aber das Bild war in den von mir besuchten Märkten und Einzelhandelsgeschäften eindeutig genug, um es zu generalisieren. Dabei neige ich persönlich nicht zu Panikreaktionen. Es war auch ein wenig Neugier, die mich dazu bewegte, an mehreren Geschäften anzuhalten und nachzusehen. Wobei: Hätte ich die begehrte Ware entdeckt, wahrscheinlich hätte ich zugegriffen…
Das „Beer Game“ und der Bullwhip-Effekt
Der sogenannte „Bullwhip-Effekt“, den wir kn diesen Tagen in Bezug auf einige Produkte des täglichen Bedarfs in seinem Anfangsstadium beobachten können, wurde bereits im sogenannten „Beer Game“ beschrieben. Die Übung wurde um 1960 am Massachusetts Institute of Technology (MIT) von der System Dynamics Group unter der Leitung von Jay Forrester entwickelt. Es geht in dieser Simulation um die Lieferkette von einer Brauerei über mehrere Groß- und Zwischenhändler bis hin zu den Endverbrauchern. Folgendes Szenario ist von den am Spiel beteiligten Personen zu bewältigen: Eine bestimmte Biersorte wird plötzlich sehr populär. Somit steigen Verbrauch und Nachfrage zunächst deutlich an. Da die Brauerei darauf nicht vorbereitet ist, kommt es in der Folge zunächst zu einem Lieferengpass.
1996 beschreibt Peter Senge in seinem Werk „Die fünfte Disziplin“ das Spiel, bei dem Studenten anhand der Spieltheorie die Dynamik dieser Lieferkette auf einfache Weise verdeutlicht werden sollte. Im Kapitel „Gefangene des Systems oder Gefangene des eigenen Denkens?“ beschreibt Senge die nacheinander eintretenden Phasen des Bullwhip-Effekts an Hand der Lagerbestände der Akteure im Markt. Innerhalb der dargestellten Zeit ergeben sich zunächst entlang der Lieferkette sich aufsummierende negative Lagerbestände (Rückstände), die zu entsprechend weiteren Bestellaktivitäten führen. Irgendwann wird der Markt förmlich mit dem hippen Bier geflutet. Doch inzwischen ist der Bedarf gar nicht mehr weiter gewachsen.
In vielen Trainingsgruppen für Berater*innen und Führungskräfte haben wir diese Dynamik in einer von CONTRAIN weiterentwickelten Form der Übung durchgespielt. Im Grunde können wir die darin hinterlegte Systemdynamik mit den entsprechenden Wachstumskreisen (Senge, Kleiner et al (1999). The Dance of Change)) aus allen unseren Übungsrunden bestätigen. Wieso ist dieser Effekt nur so schwer zu kontrollieren? Wieso lässt sich die Marktsituation nicht ebenso schnell wieder beruhigen, wie sie eskaliert?
Zurück zum Klopapier und der derzeitigen Situation in den Märkten. Wahrscheinlich haben Sie ebenso wie ich bemerkt, dass es derzeit bei uns in Deutschland (und wie mir meine Kollegin Renée Hansen heute versicherte: auch in der Schweiz) nicht um einen gefühlten, echten Mangel an Klopapier geht. Es sind die leeren Regale, die uns beeindrucken, weil wir das nicht gewohnt sind. Und die Regale neben den leeren Regalen (oft Wasch- und Pflegeprodukte) leeren sich nach dem gleichen Grundsatz gleich mit. Und auch hier geht es nicht um den Mangel, es geht um das Gefühl: Leere Regale nähren die Furcht und regen an, zu kaufen. Planlos und zu viel. Beschwichtigungsversuche laufen ins Leere, denn allein davon füllen sich die Warenbestände nicht schnell genug wieder auf. Und selbst wenn: Unter dem Eindruck des gefühlten Mangels kaufen wir dann umso größere Mengen.
Selbständig agierende Akteure in der Handelskette lassen sich schlecht lenken
Lässt sich eine solche Dynamik entlang einer Kette im hierarchisch strukturierten Unternehmen noch relativ schnell einfangen, so sind es insbesondere die selbständig handelnden Akteure in den Handelsketten, die dafür sorgen, dass die Ausschläge bei den Lagerbeständen nicht in den Griff zu bekommen sind: Es wird fast zwangsläufig in einem „Überlaufen“ enden, weil zeitgleich die Nachfrage (wann?) wieder eingebrochen sein wird und dann auch für längere Zeit nicht mehr steigt.
In den Übungen mit den Trainees und Führunsgkräften haben wir zur Abmilderung des Bullwhip-Effektes Beratungstools für die Akteure eingeführt, bei denen die einzelnen Marktbeteiligten mit der Dynamik und den Folgen des Bullwhip-Effekts konfrontiert und vertraut gemacht wurden. Dadurch ließ sich der Effekt der rasant schwankenden Lagerbestände deutlich abmildern. Doch wie soll es derzeit gelingen, uns, die Endverbraucher mit dem suchenden Blick nach nur diesem einzigen Artikel wirksam zu beeinflussen? Ich mach mal den Anfang bei Ihnen, dem Leser dieses Artikels. Bleiben Sie ruhig. Füllen Sie Ihr volles Regal nicht mit weiterem Klopapier auf. Alles wird gut!
Beer Game – die Simulationsübung
Übrigens: Unsere Übung zum „Beer Game“ und dem beschriebenen Bullwhip-Effekt bieten wir immer noch an. Auch nach der Corona-Krise wird diese Simulation ein hilfreiches und realitätsnahes Lehrstück bleiben, das die Dynamik autonomer Systeme treffend wiederspiegelt. Sprechen Sie uns darauf an. Eine Beschreibung der Regeln, der Dynamik und eine Simulation dazu finden Sie auf der Seite der Uni Klagenfurt.